Woyzeck

Vom Leid eines Menschen, der zum Mörder wird

Audiomitschnitt vom September 2016 in der Christ-König-Kirche Bochum: mit Prof.  Matthias Geuting an der Orgel und Markus Emanuel Zaja an der Bassklarinette.

 

„Rot, Blut, Uh . . . bin ich etwa ein Mörder?“, fassungslos über sein eigenes Tun steht Woyzeck da. Maria Neumann lässt Kunstblut über den steinernen Altar fließen, an der Wand erscheint überdimensional die stilisierte Dornenkrone – rot angestrahlt. Als Woyzeck 1824 hingerichtet wird, stößt er ein letztes Gebet aus: „Vater, heiliger Vater, ich komme. Herzlichen Dank, dass Du mich trotz der Schuld würdigst, Dein zu sein“: Leise und in sich gekehrt spricht die Schauspielerin diese Worte, das Blut tröpfelt, Saxophon-Klänge schwellen dramatisch an, dann Stille – einhalten und aushalten. In Personalunion spielt Maria Neumann alle Rollen, Woyzeck, seine geliebte Marie, die er aus Eifersucht erstach, den Hauptmann, den Arzt und den Tambourmajor. Das Fragment von Georg Büchner zählt zu den meistgespielten Dramen der deutschen Literatur an den Theatern. Ungewöhnlich ist diesmal der Aufführungsort mit der Kunst-Kirche Christ-König in Bochum.

Musikalische Dissonanzen

Woyzeck, der einfache Soldat, wurde zu medizinischen Versuchszwecken missbraucht, von allen gedemütigt, wurde sowohl psychisch wie auch physisch krank. Eines Tages kam er zur Erkenntnis, dass ein Messer mehr kann, als nur den Hauptmann zu rasieren, dessen Diener er war, um Geld für seine Freundin Marie und das uneheliche Kind zu verdienen. Maria Neumann spielt dieses verlorene Geschöpf in all seiner Zerrissenheit und Verzweiflung, Derbheit und Verwirrtheit authentisch mit ungeheurer Bühnenpräsenz. Ihr intensives Spiel entwickelt Sogwirkung. Die Dissonanzen, die vielen dunklen und wenig hellen Momente dieses Menschen am Abgrund, werden musikalisch durch Saxophon und Klarinette (Markus Emanuel Zaja), Klavier und Orgel (Matthias Geuting) unterstrichen. 60 Minuten, die lange nachhallen.

Nach Hiob, einem Text aus dem Alten Testament, und Büchners Lenz ist Woyzeck das dritte Projekt, das die Schauspielerin, die am Theater an der Ruhr beheimatet ist, in Kirchen zeigt. Margitta Ulbricht, WAZ 20.9.2016

Ausschnitt Woyzek
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NRZ (jasi)
Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“ spielt Maria Neumann als Solo zwischen bitterer Realität und absurdem Wahnsinn. Ein ganz großes darstellerisches Kunststück, denn Neumann verbindet Büchners Sozialdrama über einen Menschen, der nie richtig Mensch werden darf, sondern immer den Status der Kreatur behält, zu einem assoziativ zu nennenden Spiel. Büchners genialen Sätze gewinnen da eine Härte, so brutal wie Peitschenhiebe.

Als böses Märchen, voll Schrecken und grauenvollem Lachen: so spielt Maria Neumann Georg Büchners Woyzeck. Sie spielt allein, und sie spielt grandios. Überwältigend. Sie ist Woyzeck und Marie, sie ist der Doktor, der mit Woyzeck experimentiert und der Tambourmajor. Sie jault, wimmert, fleht, sie droht, lacht und jubelt. Sie lässt die Figuren verschmelzen, sie spricht bruchlos, spielt ohne Übergang, die Stimme schwillt  zum Schnarren des Doktors, zum wüsten Stöhnen Woyzecks. In dieser Deutung wird sinnlich fassbar, dass alle diese Menschen dieselben armen Teufel sind, und alle auf der sinnlosen Suche nach Glück. Am Ende ist Maria Neumann die Großmutter, die die das Märchen vom Kind erzählt, das alles auf der Welt verliert und jenseits der Welt erst Recht jeden Trost. In Mülheim wird die Trostlosigkeit zum autistischen Traum, zum schrecklichen Gelächter.  Maria Neumann schwingt sich vom zärtlichen Lächeln zu schrillem  Wahnsinn, ihr erstes Wort ist „Blut“. Der Zug ins Lächerliche trifft Büchners Intention durchaus. Ironie und Trauer. Welch ein Abend. Maria Neumann reißt sich an die Grenzen der Darstellungskunst und lässt dabei die Ahnung offen, dass der Mensch noch weiter gehen kann, dass das Ende der Demütigung nicht erreicht ist. Das ist berührend stark, ebenso tragisch wie grotesk.
WAZ  20. 10.2001  Gudrun Norbisrath